Kinästhetik-Trainings für die Pflegenden eröffnen neue Möglichkeiten

Seit ein paar Jahren Ist Kinästhetik ein fester Bestandteil aller Pflegeausbildungen. Kinästhetik bezeichnet die Lehre der Bewegungswahrnehmung und basiert auf der Erfahrung und Wahrnehmung der eigenen Bewegung. Es führt zu einer erhöhten Achtsamkeit für die Qualitäten und Unterschiede der eigenen Bewegung in allen alltäglichen Aktivitäten.

Kinästhetik ist keine einmalig zu erlernende Technik, sondern ein dauernd anpassbarer Lernprozess, der seine Zeit benötigt. Einiges gelingt auf Anhieb, anderes nicht. Die Umsetzung des Erlernten in der gelebten Komplexität der Praxis stellt Pflegende immer wieder vor Herausforderungen. Deshalb hat sich die Stiftung RaJoVita dazu entschlossen, ein monatliches Kinästhetik-Training auf allen Abteilungen anzubieten, um das erlernte Wissen zielgerichtet mit der Praxis zu verknüpfen.

Einblick in eine Kinästhetik-Lernsequenz

Wie eine solche Lernsequenz kann wie folgt aussehen: Die Bewohnerinnen und Bewohner sitzen alle im Rollstuhl oder auf einem normalen Stuhl um einen grossen Tisch herum. Das Thema lautet: Wie gestalte ich eine Sitzposition, welche die Bewegungsfreiheit, das Atmen, den Kreislauf, die Verdauung und nicht zuletzt das Denken der Bewohnerinnen und Bewohner unterstützt?

Dabei werden die folgenden Fragestellungen beachtet: Was fördert und was behindert die Wahrnehmung in der Bewegungsanleitung? Wie kann ich gezielte Bewegungen am Arm anleiten? Welche Rolle spielt der Brustkorb für die Bewegung des Armes und umgekehrt? Wie kann ich durch leichte Armbewegungen eine Gewichtsverlagerung im Brustkorb und Becken auslösen? Und nicht zuletzt: Was muss ich am Rollstuhl verändern, um überhaupt ein aktives Sitzen zu ermöglichen?

Vor Beginn der Sequenz werden Fussstützen bei den Rollstühlen abgenommen und durch stabile Blocks ersetzt. Rollstuhllehnen werden zurückgeklappt, um das Bewegen der Arme zu fördern. Frotteetücher entlang der Wirbelsäule ermöglichen zudem eine aufrechte Sitzposition, denn stabile Unterlagen erhöhen gleichzeitig die Körperwahrnehmung und die Beweglichkeit.

Kinästhetik hilft auch gegen Angstzustände

Danach steht ein Bewohner mit grosser Angst im Mittelpunkt. Er wehrt sich gegen jede noch so kleine Hilfestellung der Pflegenden. Seine Grundspannung ist sehr hoch. Die Pflegende gibt Herrn K. die Hand und beginnt, diese etwas zu bewegen. Dabei achtet sie darauf, dass sich ihre Bewegungen an seine Möglichkeiten anpassen. Um den Bewohner in seiner Bewegung wahrzunehmen, muss die Spannung der Pflegenden möglichst tief bleiben. Sie kann nun seinen Arm hochheben. Der Brustkorb von Herrn K. wird durch diese Bewegung geöffnet. Der Bewohner nimmt eine Gewichtsverlagerung in seinem Becken wahr.

Nach dieser Bewegungssequenz wurde bei allen beteiligten Bewohnerinnen und Bewohnern interessierte, wachsame Gesichtsausdrücke und eine aufrechte Sitzposition beobachtet. Die Bewohnerinnen und Bewohner bewegten zudem ihre Arme und teilweise auch ihre Beine selbständig. Durch mehr Möglichkeiten in der Armbewegung konnten manche Bewohnende auch ihr Gewicht im Becken besser verlagern, was Rötungen im Bereich des Gesässes verhindert.

Das Highlight der Stunde

Was vor einer halben Stunde für alle Beteiligten undenkbar gewesen wäre, ist Realität geworden: Bei Herrn K. löste sich seine starke Spannung. Er zeigte dies, indem er zum Schluss als Dankeschön mit seiner Hand liebevoll über das Gesicht der Pflegenden strich.