In der Pflegewohnung Spinnereistrasse wohnt Herr Oess, er erzählt uns von seinem Hobby.

Funde aus der grauen Vorzeit unseres Planeten lassen vermuten, dass die damaligen menschlichen Wesen schnitzten, sei es aus Langeweile oder anderen Gründen. Als sie auf Grund der Evolution fähig waren, Erz zu erkennen, begannen sie dieses zu schmelzen und zu brauchbaren Geräten sowie zu anderen Hilfsmitteln zu verarbeiten. Das zeigen auch die vielen Reste von hölzernen Gegenständen. So entwickelte sich das Schnitzen bis zur heutigen Zeit immer mehr. Als meine Pensionierung schon sehr nahe war, fragte mich meine Tochter Nicole eines Tages: ,,Was machst du, wenn du nicht mehr zur Arbeit gehen musst?“ Da ich aufgrund meines erlernten Berufes ein gutes handwerkliches Geschick hatte und mir schon lange eine Weihnachtskrippe wünschte und schon nahe dabei war eine zu kaufen, fiel mir die Antwort leicht: „schnitzen“. Weihnachten nahte und wie immer, seit meine Frau gestorben war, lud ich Nicole zum Essen bei mir ein. Als wir unsere Geschenke übergaben, war meines sehr flach. Darin steckte ein Gutschein für einen Grundkurs im Schnitzen, mit dem Hinweis, man solle sich mit dem Kursleiter in Verbindung setzen. Gesagt, getan. Nach dem Jahreswechsel rief ich den Kursleiter Paul Widmer an, der mir den weiteren Verlauf des Kurses erklärte. Er bringeMaterial und die notwendigen Werkzeuge mit. Ich erklärte ihm meinen Wunsch, worauf er mir sagte, er nehme einige Figuren mit und ich könne dann wählen, mit welcher Figur ich beginnen wolle. Gespannt trat ich am ersten Kursabend in den Werkraum im 3. Stock des Sonnenhof-Gebäudes ein. Es waren bereits fünf Interessenten anwesend. Dann trudelten auch die restlichen ,,Schnitzer“ ein. So war die Klasse mit sechs Frauen und vier Männern voll besetzt. In kurzen prägnanten Worten erklärte uns Paul, auf seinen Wunsch duzten wir uns alle, was beim Schnitzen zu beachten ist.

1. Wahl des zu bearbeitenden Holzes. Am besten eignet sich Lindenholz, denn es ist weich und sprengt nicht gleich, wenn Befestigungsschrauben eingedreht werden.
2. Beim Bearbeiten sollte man immer darauf achten, dass in der Wachstums-Richtung gearbeitet wird.
3. Die Schnitzmesser sollten sorgfältig aufgenommen und hingelegt werden, damit die Schneide nicht verletzt wird.

Danach musste sich jeder vorstellen, damit wir eine Ahnung seiner privaten und beruflichen Tätigkeit erhielten. Dann erfolgte die Begutachtung der Musterfiguren. Unter diesen fand ich eine einfache Hirtenfigur mit Hut und Stab, sie war auf einer Kopierfräsmaschine über Taster und Fräser aus einem Stück Lindenholz gefertigt. Am Rohling war nur der Umfang der Hutkrempe und die ungefähre Gestalt, sowie die Nasenspitze erkennbar. Also musste ich mir vorstellen, wie so ein Hirte aussah: breite Hutkrempe als Schutz bei Regenwetter sowie ein langer Mantel für die Nachtwache und eine Hirtentasche mit dem Proviant. Nun montierte ich die Rohgestalt auf den Schnitzbock und begann die geraden Flächen des Mantels zu bearbeiten, dann Beine und Füsse mit Sandalen. Zuletzt den Kopf mit dem Hut. Das war eine knifflige Arbeit. Das Gesicht ist am schwierigsten zu formen, da musste mir Paul einige Male helfen und zeigen wie man hier vorgehen muss. Der Kopf der stehenden Figur beträgt 1/8 der gesamten Höhe. Die Augen und der Ohrenansatz liegen in der Mitte der Kopfhöhe. Die Augen liegen drei Augenbreiten auseinander. Die Nasenspitze liegt in der Mitte zwischen Augen und Kinn und der Mund liegt in der Mitte zwischen Nase und Kinn. Wird nach diesem Muster gearbeitet, so entsteht ein symmetrisches Gesicht. Mit weiteren Schnitten am richtigen Ort, ergibt es ein lächelndes oder ernstes Gesicht. So schuf ich mit der Zeit, nebst anderen, grösseren und kleineren Figuren, fünf Sätze Krippengruppen mit je 12-14 Figuren, die ich zum Teil verschenkte oder verkaufte.